Cover
Titel
Die Entdeckung des Sterbens. Das menschliche Lebensende in beiden deutschen Staaten nach 1945


Autor(en)
Greiner, Florian
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 676 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Logemann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Der Tod stand lange eher nicht im Zentrum der deutschen Zeitgeschichtsforschung für die Jahrzehnte nach 1945. Dabei eröffnet der gesellschaftliche Umgang mit dem Sterben wichtige Perspektiven auf zentrale Wandlungsprozesse, wie Florian Greiners Augsburger Habilitationsschrift zur „Entdeckung des Sterbens“ zeigt. Demographische Alterungsprozesse, die Geschichte von Medizin und Sozialstaat, die Neuverhandlung sozialer Werte und Normen, aber auch die Verarbeitung von Weltkriegs- und NS-Erfahrungen im Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbinden sich in diesem Thema. Die Studie richtet den Blick auf Debatten über Sterbehilfe und Patientenverfügungen, Palliativmedizin und Hospizbewegung, betrachtet aber auch den Aufstieg der Thanatologie als Wissenschaft und Reformbewegung. Mit akribischer Recherche und basierend auf medialen Quellen sowie Archivmaterial zahlreicher Organisationen und Bewegungen fragt der Autor nach dem Vorstellungswandel über „gutes“ und selbstbestimmtes Sterben – und dies in transnationaler Perspektive sowie im deutsch-deutschen Vergleich.

Wie der Buchtitel andeutet, argumentiert Greiner gegen die in Literatur und Medienberichten verbreitete These vom Sterben als „Tabu“ und von der vermeintlichen „Unsichtbarkeit“ des Todes in modernen Gesellschaften. Solche Vorstellungen gewannen insbesondere ab den 1960er-Jahren an Bedeutung, als Sterben zunehmend in institutionellen Strukturen und seltener im familiären Umfeld stattfand. Im Jahr 1980 ereigneten sich etwa 55 Prozent aller westdeutschen Sterbefälle im Krankenhaus – ein Höchststand in der deutschen Geschichte. Verbreitet auch von Historikern wie Philippe Ariès, verband sich die Tabuthese häufig mit einer Kritik am zunehmend als „anonym“ und „steril“ geltenden medizinischen Betrieb. Dagegen arbeitet Greiner kritisch heraus, dass über das Sterben durchgehend öffentlich geredet und gestritten wurde. Es gab keine Sprechverbote – im Gegenteil, die beiden deutschen Gesellschaften „entdeckten“ das Thema Sterben insbesondere ab den 1970er-Jahren neu, und die Tabuthese wurde dabei gern genutzt, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. In der Konsum- und Leistungsgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts wurden Alter und Tod eben nicht einfach marginalisiert. Greiners Arbeit kann hier gut an aktuelle zeithistorische Forschungen zur zunehmenden Alterung und zum Bedeutungswandel von Pflegearbeit in der deutschen Gesellschaft anknüpfen. Kirchen, zivilgesellschaftliche Organisationen sowie Mediziner:innen und Journalist:innen trieben eine Diskussion über neue Formen der Ars moriendi für moderne Gesellschaften voran, die gleichzeitig die Schattenseiten der „Apparatemedizin“ kritisch beleuchtete.

Die Struktur der Studie ist weitgehend chronologisch; das Buch behandelt anhand exemplarischer Momente der Jahre 1948 bis 2020 eine Abfolge thematisch verknüpfter Debatten und Entwicklungen. So wurde etwa die Relevanz professioneller Sterbebegleitung in der Altenpflege von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden ab den 1960er-Jahren zunehmend thematisiert. Die Medizin wiederum musste sich angesichts technischer Fortschritte bald mit einer Neudefinition von Tod und Todeszeitpunkt („Hirntod“) ebenso auseinandersetzen wie mit der Frage des Einsatzes beziehungsweise Einstellens lebenserhaltender Maßnahmen. Die Durchsetzung von Patientenverfügungen, für die es 1978 erstmals ein (west-)deutsches Muster gab, war dabei ein zentraler Schritt.

Auch zahlreiche Kontroversen entspannen sich um das Sterben in beiden deutschen Staaten. So war zunächst die passive, ab den 1980er-Jahren dann insbesondere die aktive Sterbehilfe Gegenstand heftiger medialer Debatten, vorangetrieben von Vereinigungen wie der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben und schillernden Figuren wie Hans Henning Atrott oder Julius Hackethal. Anders als etwa in den Niederlanden blieb die gesellschaftliche Skepsis gegenüber der Sterbehilfe in Deutschland hoch, nicht zuletzt da in der westdeutschen Debatte ebenso wie bei offiziellen Stellungnahmen in der DDR immer wieder auf die mörderischen „Euthanasie“-Programme des NS-Regimes rekurriert wurde. Auch eine esoterische Faszination mit Nahtoderfahrungen trug im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer verstärkten „Medialisierung“ des Sterbens bei, so Greiner. Dies zeigte sich unter anderem in einem Boom von Film- und Fernsehbeiträgen (zum Beispiel „Schwarzwaldklinik“ ab 1985), prominenten Ausstellungen (zum Beispiel „Körperwelten“ seit 1995) sowie einer Flut von Ratgebern und Erfahrungsberichten Sterbender oder ihrer Angehörigen.

Ganz besondere Aufmerksamkeit widmet Greiner schließlich der Entwicklung von Hospizbewegung und Palliativmedizin in Deutschland. Der von Großbritannien und den USA ausgehende Hospizgedanke, der auf eine enge persönliche, ganzheitliche und oft christlich-religiöse Begleitung Sterbender abzielt, konnte sich im deutschen Gefüge von Verbänden, Medizinadministration und Sozialstaat nur langsam etablieren, wie der Autor am Beispiel Münchens zeigt. Auch die palliativmedizinische Wende mit einer Liberalisierung der Schmerzmittelvergabe für todkranke Patient:innen erfolgte in den beiden deutschen Staaten nur mit Verzögerung. Ihren letztendlichen Erfolg ab den späten 1980er-Jahren verdankte die Hospizbewegung dann unter anderem ihrer Positionierung als Alternative zur (aktiven) Sterbehilfe. Gleichzeitig waren es zivilgesellschaftliche Gruppen wie der Verein Omega und zahlreiche Einzelpersonen wie der katholische Priester Heinrich Pera in der DDR oder Reinhold Iblacker und Franco Rest in der Bundesrepublik, die dem Konzept zum Durchbruch verhalfen. Eine herausgehobene Rolle in der Geschichte der Sterbeforschung und der Hospizidee spielte zudem die in der Schweiz geborene US-amerikanische Thanatologin Elisabeth Kübler-Ross. Greiner nähert sich ihrer Arbeit – mit den ebenso einflussreichen wie simplifizierenden Trauerschemata und ihren zum Teil esoterischen oder den Tod romantisierenden Schriften – in gebotener kritischer Distanz. Gleichwohl dokumentiert er die Allgegenwärtigkeit der Ideen und Initiativen von Kübler-Ross in der deutschen Auseinandersetzung mit dem Sterben im späten 20. Jahrhundert.

Die überaus detailliert recherchierte und auf fast 600 Seiten umfangreich dokumentierte Studie (plus Quellen- und Literaturverzeichnis, Personen- und Ortsregister) leistet einen grundlegenden Beitrag zur Erschließung eines neuen Forschungsfeldes. Gleichwohl bleiben auch ein paar „blinde Flecken“. Zum einen erfahren Leser:innen sehr wenig über Debatten und gesellschaftliche Einstellungen zum Sterben in der Zeit vor 1945. Eine wenigstens kursorische Abhandlung wäre zum Einordnen der These einer „Entdeckung“ des Sterbens in den Jahren danach hilfreich gewesen. Auch die Praktiken und die Wahrnehmung des alltäglichen Sterbens zu Hause sowie eine Sozialgeschichte häuslicher Pflege nach 1945 kann die Arbeit (allein quellentechnisch) so nicht leisten. Dabei wäre es erstens wichtig, das in der populären Literatur oft romantisierte Sterben im familiären Umfeld historisch-kritisch zu beleuchten. In der schwindenden Bedeutung des häuslichen Sterbens liegt zudem zweitens ein Teil des „wahren Kerns“ der These einer zunehmenden Unsichtbarkeit des Todes in der alltäglichen Wahrnehmung der Menschen. Auch der Wandel hin zu einer auf Pietät und Zurückhaltung bedachten Bestattungs- und Trauerkultur trug bis wenigstens in die 1990er-Jahre zum Rückgang der Sichtbarkeit der Toten bei. Greiner klammert diesen Bereich bewusst aus und nennt dafür forschungspragmatische Gründe. Das ist nachvollziehbar, birgt aber auch Probleme – nicht zuletzt im Hinblick auf die vom Autor vertretene These einer „Ökonomisierung“ des Sterbens (S. 14–16). Der Verweis auf steigende Kosten für die Pflege und Betreuung Sterbender ist sicher wichtig und wurde von Zeitgenoss:innen (nicht zuletzt von Krankenkassen und den Verantwortlichen weiterer sozialer Sicherungssysteme) durchaus mitdiskutiert. Dennoch überzeugt die Vorstellung eines zunehmenden Fokus auf ökonomische Zusammenhänge beim Sterben wie auch bei Bestattungen, deren Kosten nominell ebenfalls signifikant stiegen, nur bedingt.1 Einerseits bedeuteten ein wachsendes Wohlstandsniveau sowie sozialstaatliche Absicherungen, dass die ökonomische Bedeutung des einzelnen Sterbefalls sich sowohl gesamtgesellschaftlich als auch für den durchschnittlichen Haushalt relativierte. Zum anderen arbeitet Greiner ja gerade heraus, wie viel wichtiger medizinische, ethische oder religiöse Erwägungen gegenüber dem Ökonomischen in den gesellschaftlichen Debatten über den Tod waren.

Dies soll die zahlreichen Leistungen des Buches jedoch nicht schmälern. Für die Zeitgeschichte geradezu vorbildlich ist die Darstellung auch in der Selbstverständlichkeit, wie Bundesrepublik und DDR nebeneinander und miteinander betrachtet werden. Dabei stechen in der Regel weniger die Unterschiede als die Ähnlichkeiten ins Auge. Eine wichtige Ausnahme ist jedoch das vorletzte Kapitel über die in mancher Hinsicht katalysatorische Rolle der AIDS-Epidemie für Debatten über das Sterben ab Mitte der 1980er-Jahre. Während sie in der gelenkten Öffentlichkeit der DDR kaum ins Gewicht fiel, bündelte die mediale Auseinandersetzung über das „Todesurteil HIV-Infektion“ (bis 1997) in der Bundesrepublik viele der bereits angesprochenen Themen. Der Blick auf die zumeist noch sehr jungen Sterbenden gab den Debatten über selbstbestimmten Tod und Sterbehilfe, aber auch über die Bedeutung von Palliativmedizin und Hospizen eine zusätzliche Dringlichkeit. Hier wie auch an anderer Stelle gelingt es Florian Greiner trotz eines teilweise sehr detailorientierten Fokus auf Fachdebatten nicht nur, der Bedeutung und Ernsthaftigkeit seines Themas gerecht zu werden, sondern auch immer wieder sinnvoll den Bogen zu anderen zentralen Themen der Zeitgeschichtsforschung zu schlagen.

Anmerkung:
1 Vgl. Jan Logemann, Das Geschäft mit den Toten. Bestattungen zwischen Markt und Moral seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 30 (2022), S. 350–376.